Das Geheimnis des Chinesischen Hundes – Tag 2

René von Tiger – Consulting Detective

Tag 2 – Konferenz der Meister

Am Morgen des nächsten Tages sollte mich ein ordentliches Frühstück zu neuen Kräften bringen. Also kehrte ich bei Speedy’s Sandwich Bar & Cafe ein, das mir von meinem Londoner Kollegen empfohlen worden war.

Ich staunte nicht schlecht, als ich seinen Namen sogar auf der Speisekarte entdeckte. Er schien hier wohl ein Stammgast ersten Ranges zu sein, dass man sogar ein Frühstück nach ihm benannt hatte. Das Frühstück war dann tatsächlich eine sehr leckere Variante des Full English Breakfast.

Ich hatte zunächst draußen Platz genommen, weil drinnen alle Tische belegt gewesen waren. Es war aber am frühen Morgen trotz des erneut aufkommenden Sonnenscheins doch noch ein wenig frisch im kühlen Wind. Der Chef des Hauses höchstpersönlich sorgte dafür, dass ich nach drinnen umziehen konnte, noch bevor meine Bestellung am Tisch eintraf. Das nenne ich mal Service!

Irgendwie hatte ich allerdings den Eindruck, dass sämtliche Menschen um mich herum andauernd den Namen Sherlock murmelten. Was das wohl zu bedeuten hatte? War er etwa auch zufällig zum Frühstück hier? Wollten alle das Sherlock Holmes Breakfast? Erwartete man sein Kommen? Wusste man am Ende womöglich, dass ich ihn gleich besuchen wollte? Ich genoss mein Frühstück, und während sich mein plüschscharfer Verstand nährte, brach ich mir die Wahrheit Bahn: Die Leute im Café glaubten alle, Sherlock würde hier wohnen, und das nur, weil er gerne zum Essen herkommt. Dabei weiß doch jeders Kind, dass Sherlock Holmes in 221b Baker Street zuhause ist, und nicht hier, in 187 North Gower Street. Tststs! Menschen.

Vom Café aus war es nicht mehr weit bis zur Baker Street. Am schnellsten kommt man in London mit der ältesten U-Bahn der Welt voran, dem London Underground. Also ging es über eine lange Rolltreppe weit, weit hinab in „The Tube“. „Die Röhre“, so nennen die Londoner ihre U-Bahn, die mit 402 km die größte Netzlänge Europas aufweist. Bereits am 10. Januar 1863 fuhren auf der heutigen Metropolitan Line Dampfzüge durch den Untergrund, deren Rauch an den zur Oberwelt offenen Stationen aus den Tunneln abziehen konnte. Heute kann man an 270 Stationen ein- und aussteigen.

Nur zwei Stationen ratterte der scheinbar endlos lange Zug der Circle Line durch die unterirdische Röhre, um mich vom Euston Square am Ende der North Gower Street zu meinem Ziel an der Baker Street Station zu bringen. Von der Haltestelle aus waren es nur noch ein paar Schritte, bis ich über einer Eingangstür die Hausnummer 221b entdecke.

Dort angekommen, war ich ganz schön überrascht. Der Londoner Kollege hält offenbar überhaupt nichts von der Diskretion, die ein ordentlicher Consulting Detective an den Tag legen sollte. Stattdessen hat sich um ihn herum ein ganz schöner Wirbel aufgebauscht. Zwischen Dutzenden von potentiellen Klienten, die auf dem Bürgersteig der Baker Street Schlange stehen, tummeln sich hunderte von Schaulustigen, die darauf hoffen, einen Blick auf den berühmten Ermittler zu erhaschen oder ein Souvenir von ihm zu ergattern. Um das ein wenig in geordnete Bahnen zu lenken, hat Holmes im Erdgeschoss seines Hauses sogar ein kleines Museum eingerichtet, in dem passende Devotionalien angeboten werden.

Die Besucherströme sind derart groß, dass ständig ein Beamter von Scotland Yard vor seiner Tür Wache hält und den Ansturm der Menschen regelt. Zum Glück war der uniformierte Kollege von Holmes über meinen Besuch informiert worden, so dass ich umgehend zu ihm vorgelassen wurde.

Über 17 Stufen führte die schmale Treppe in das erste Stockwerk des Hauses, und ich fand Holmes in Gedanken versunken in seinem Sessel sitzend vor. Zwei Fenster, von denen aus man die Straße gut im Blick hat, warfen Licht in das kleine Zimmer, dass mit allen möglichen Utensilien überladen war.

Ein Esstisch mit viktorianischem Tafelaufsatz stand in der rechten Ecke neben dem Fenster. In der linken Ecke befand sich Holmes Schreibtisch, an dem er so manches Experiment durchführte. Seine Violine lehnte sich, auf einem Hocker abgestellt, an eben jenen Schreibtisch. An der Wand gegenüber befand sich der sauber geordnete Arbeitsplatz seines Freundes und Kollegen Dr. John Watson. Auf dem Kaminsims fiel mir das Foto einer attraktiven Dame ins Auge, die mir von Holmes nur als „Die Frau“ vorgestellt wurde.

Sherlock nahm in seinem Sessel vor dem Fenster platz und bot mir an, es mir ihm gegenüber bequem zu machen. Er bevorzugt diese Sitzordnung, da so das Tageslicht vom Fenster aus in das Gesicht seines Gesprächspartners fällt und er kleinste Feinheiten in der Mimik seines Gegenübers zu erkennen in der Lage ist, während er selbst im Gegenlicht nur schwer zu lesen ist. Das stört mich natürlich überhaupt nicht, denn ein gutes Tigerauge sieht auch bei schlechtem Licht noch hervorragend.

In einem langen Gespräch informierte mich der berühmte Detektiv über die ihm vorliegenden Fakten. Viel war es leider nicht, was er mir sagen konnte. Ihm waren wage Berichte zugespielt worden, dass London ein Ereignis unermesslicher Größe bevorstand, das die Massen bewegen würde und das mit einem Chinesischen Hund zu tun haben sollte. Wie er bereits selbst beobachtet hatte, hielten sich zu der Zeit tatsächlich ungewohnt viele Chinesen in London auf. Seinen Berechnungen nach waren es mittlerweile so viele, wie in keiner anderen Stadt der Welt außerhalb Asiens. Mit irgendeinem Hund konnte er aber bislang keinen Zusammenhang herstellen. Nur einen konnten wir definitiv ausschließen, nämlich den Hund von Baskerville. Den hatte Holmes nämlich schon vor langer Zeit zur Strecke gebracht, und nun hing sein Kopf als Trophäe an einer Wand im zweiten Obergeschoss seines Hauses.

Das war also nun genau die Stelle, an der ich ins Spiel kam. Klein und unauffällig wie ich bin, mit meinen beige-braunen Streifen immer gut getarnt, ist es mir ein leichtes, im Verborgenen zu ermitteln, und meinem Wachsamen Tigerauge entgeht so schnell kein noch so winziger Hinweis, der uns die Zusammenhänge erschließt.

Da es nach der Ausgiebigen Konferenz zwischen uns beiden Meisterdetektiven aber schon begann zu dämmern, beschloss ich, meine Ermittlungen erst am nächsten Morgen aufzunehmen. Für den heutigen Abend suchte ich mir stattdessen eine angemessene Stärkung.

Mit dem typischen Londoner Taxi, in dem man hinten viel Beinfreiheit hat, rolle ich zum Pub „The Dog House“. Schlau getarnt, mit einem absolut unauffälligen Fez, nahm ich unerkannt mein Abendessen ein. Tatsächlich blieb ich hier, etwas außerhalb des Stadtzentrums, für die Augen der restlichen Pub-Besucher so gut wie unsichtbar. Gut verkleidet ist eben halb gewonnen.

Mit einer ordentlichen Mahlzeit im Bauch und nach einem, oder zwei Schlummerbierchen schläft es sich besonders gut, und Schlaf ist die wichtigste Vorbereitung auf den Erfolg des kommenden Tages. Jawohl!

Wie es mit den Ermittlungen weiter läuft, das erzähle ich euch im dritten Teil meines Abenteuers um das Geheimnis des Chinesischen Hundes.


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